Hypnosetherapie

Unheimlich wirksam

Kulturen in aller Welt kennen Hypnose als Therapie, teils seit Jahrtausenden. In der modernen westlichen Medizin kommt die medizinische Hypnose wieder vermehrt zum Einsatz. Die Wirksamkeit in bestimmten Bereichen gilt als erwiesen. Allerdings haben Hypnose und die Trance, zu der sie führt, längst nicht alle Geheimnisse preisgegeben. Ein Exkurs in das Forschungsgebiet der inneren Welt, die sie erschließt, – und ein Besuch bei der Wiesbadener Hypnosetherapeutin Sabine Kaltwasser. Sie beschreibt, was ihre Patienten* und Klienten erwartet.

© Sabine Kaltwasser, Hypnosetherapeutin, SK-Mental

Sabine Kaltwasser; © Sk-Mental

Sabine Kaltwasser hat viele Jahre als Leiterin von Operationsabteilungen und als Pflegedirektorin im Krankenhaus gearbeitet. Neben einer Ausbildung zur Krankenschwester und dem Studium zur Pflegemanagerin, hat sie zahlreiche Zusatzausbildungen und Qualifikationen im Bereich der Psychologie erworben. Seit 2000 ist sie als Trainerin und Consultant für Einrichtungen des Gesundheitswesens selbstständig. 2010 eröffnete sie SK-Mental, ihre Praxis für Psychotherapie, Coaching und Hypnosetherapie in Wiesbaden. Hypnose zählt zu den Schwerpunktbehandlungen. Kontakt und weitere Informationen.

Therapeutische Trance ist fokussierte Aufmerksamkeit, die auf bestmögliche Weise so gesteuert wird, dass der Patient seine Ziele erreicht​​​​​​.

Milton H. Erickson, Mitbegründer der modernen Hypnosetherapie

Der Weg zur Besserung kann über eine Blumenwiese führen: Es ist ein herrlicher Sommertag. Sie wandern auf einem Feldweg, der ihnen vertraut ist. Sie spüren den weichen, warmen Boden unter den Füßen. Ihr Blick schweift über ein Meer von Gräsern und Blumen. Ein lauer Wind weht, er duftet frisch und würzig. „Oft sind es Bilder und schöne Erinnerungen, mit denen ich Menschen in Trance versetze“, sagt Sabine Kaltwasser. Medizinische Hypnosetherapie und Sporthypnose sind Schwerpunktbehandlungen, die sie in ihrer 2010 in Wiesbaden eröffneten Praxis für Psychotherapie, Coaching und Hypnosetherapie einsetzt.

Ihre Patienten* und Klienten leiden unter Ängsten, depressiven Verstimmungen und Depressionen. Sie behandelt Sportler und Manager, die ihre Leistung verbessern wollen. Menschen in akuten und chronischen Stresssituationen kommen ebenso zu ihr wie Raucher, die aufhören wollen. Sie hilft Menschen abzunehmen, Tics, einen Tinnitus oder chronische Schmerzen loszuwerden oder nicht mehr als belastend wahrzunehmen. Die Einsatzgebiete der medizinischen Hypnosetherapie sind vielfältig: „Einige meiner Klienten haben vorher vergeblich schulmedizinische Therapien versucht. Hypnose ist für viele ein weiterer Versuch“, sagt sie.

Dass er oft zu schnellen Erfolgen führt, belegen zahlreiche Studien. In einigen Ländern, darunter Österreich und Frankreich, zählt medizinische Hypnose seit Jahren zu den Kassenleistungen. Hierzulande übernehmen inzwischen private Kassen in vielen Fällen die Kosten für eine Behandlung. „Nachzufragen lohnt sich“, so Sabine Kaltwassers Erfahrung.

Medizinische Hypnose hat sie aus Neugierde erlernt: „Ich habe damals als Interimsmanagement eine OP-Leitung übernommen und mich spontan zu einem dreitägigen Einführungskurs angemeldet.“ Wie viele Menschen, haben sie der Zustand der Trance und die Möglichkeiten, sie gezielt herbeizuführen und als Therapie zu nutzen fasziniert.

Wir alle erleben regelmäßig eine leichte Trance, den Zustand, in den eine Hypnose versetzt. Es ist die Zeitspanne vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen, in denen wir nicht scharf zwischen Wirklichkeit und Traum unterscheiden. Auch der sogenannte Flow ist eine Art Trance: Vertieft in Arbeit oder einen Bewegungsablauf, spüren wir keine Erschöpfung, keinen Durst und Hunger. Wir überhören die Frage des Partners, der neben uns vergeblich auf eine Antwort wartet. Bis er uns leicht berührt oder die Stimme hebt – und uns zurückholt. Woher?

Die vereinfachte Kurzversion der Antwort der Neurologen und Hirnforscher, die Hypnose untersuchen: Während der Trance leben wir in einer inneren Welt. Wir erschaffen sie mit unseren Gedanken, Gefühlen und Bildern. In ihr können wir Naturgesetze aufheben: die Zeit anhalten, in die Vergangenheit reisen, eine Zukunft gestalten. „Wir können in dieser Welt entscheiden, Verhaltensmuster zu ändern oder Schalter umzulegen“, sagt Sabine Kaltwasser. Auswirkungen bleiben bei einer erfolgreichen Hypnosetherapie in der äußeren Welt erhalten. Teilweise sind sie messbar: So können Blutdruck und Blutzuckerspiegel nachhaltig sinken.

Dass die innere Welt kein Hirngespinst ist, sondern real und wie sie mit der äußeren Welt in Wechselwirkung steht, machen auch bildgebende Verfahren wie die Computertomographie sichtbar: Der selbe Reiz, etwa Schmerz oder Stress, aktiviert im Wachzustand andere Gehirnareale als unter Hypnose. Auswertungen zeigen, dass wir in Trance Reize zwar wahrnehmen, allerdings nicht auf die im Wachzustand übliche Weise auf sie reagieren.

Sabine Kaltwassers Spezialisierung auf Hypnosetherapien hat sie ihrem Cousin zu verdanken: „Du hast doch einen Kurs gemacht. Probier´ bitte mal, ob ich damit mein Nägelkauen loswerden kann.“ Nach drei anderthalbstündigen Behandlungen war es geschafft. Seit mehr als zehn Jahren ist er die Angewohnheit los. Seither hat sie zahlreiche Fortbildungen absolviert und vielen Menschen geholfen: „Darunter Pateinten und Klienten, die nicht an Hypnose geglaubt haben.“ Ein Satz, den sie nicht selten zu hören bekommt lautet: „Es ist ein Wunder!“ Wie genau bewirken medizinische Hypnosetherapeuten es?

Es gibt unterschiedliche Techniken, doch einzelne Schritte sind genau festgelegt. Das Pendel, das viele mit Hypnose assoziieren, wird heutzutage nur selten eingesetzt. Sabine Kaltwasser erklärt Grundprinzipien: „Wichtig ist das Vorgepräch mit einer gründlichen Anamnese. Thema sind nicht nur aktuelle Beschwerden oder Angewohnheitn, die ich behandeln soll, sondern auch Vorlieben, Abneigungen, Erinnerungen, prägende Erlebnisse.“ Sie bestimmen maßgeblich die inneren Bilder, die die Therapeutin wachrufen will: „Ich muss zum Beispiel wissen, ob jemand eine Gräserallergie hat. Wenn ja, werde ich nicht das Bild der Blumenwiese anbieten."

Der Bahandlungsraum ist ruhig und freundlich mit Blick auf Grün. Patienten sitzen oder liegen nach Belieben. Einige lässt sie auf einem Ergometer radeln: „Diese sogenannte Aktiv-Wach-Hypnose hat sich als Alternative zur Entspannungshypnose bei Sportlern und Menschen mit Depressionen besonders bewährt.“

Dann beginnt eine Körperreise, vergleichbar mit progressiver Muskelentspannung oder bestimmten Meditationstechniken: „Ich lenke mit Worten die Aufmerksamkeit auf Körperregionen bis sich irgendwann die Augen schließen.“ Ist dieser erste Teil der Einleitung abgeschlossen, beginnt die eigentliche Einleitung der Trance. „Eine Möglichkeit ist, die Patienten im Geist eine Treppe hinab steigen zu lassen. Es gibt unterschiedliche Methoden.“ Welche sie einsetzt, sei eine Frage des Themas der Behandlung, der Erfahrung und der Menschenkenntnis. Im nächsten Schritt wird die Hpnose vertieft.

Studien legen nahe, dass nicht alle Menschen gleich gut hypnotisierbar sind: 20 Prozent sind demnach kaum suggestibel, 20 Prozent sehr schwer. 60 Prozent teilen sich das Mittelfeld. Die Umgebung, Erwartungen und die Tagesform des Klienten spielten dabei eine Rolle und vor allem: die Bereitschaft, sich auf Hypnose einzulassen. Wenn sich nach drei Behandlungen nichts verändert hat, schlägt Sabine Kaltwasser eine andere Therapieform vor. „In den fast 15 Jahren, in denen ich praktiziere, ist das kaum ein Duzend mal vorgekommen“, sagt sie. Jedoch sei es durchaus normal, dass in der ersten Stunde nichts oder wenig passiere: „Viele brauchen eine Weile, bis sie sich darauf einlassen, die äußere Welt zu verlassen. Nicht der Therapeut, sondern der Patient allein entscheidet, wann und ob er es will.“

Die willenlose Marionette, die auf Trigger reagiert, ist eine beliebte Figur in Thrillern – jedoch eine Fiktion: „Es ist unmöglich, jemanden zu zwingen, etwas gegen seinen eigenen Willen zu machen“, sagt Sabine Kaltwasser und Studien stimmen ihr zu. Sie belegen unter anderem: Unter Hypnose begehen nur Menschen Verbrechen, die auch im Wachzustand dazu bereit wären. Bislang gibt es keinen wissenschaftlich belegten Hinweis darauf, dass jemals ein Verbrechen wider Willen unter Hypnose verübt wurde. Hypnose, so die Ergebnisse mehrerer Studien, ist keine Manipulation – allerdings gibt es Hypnotiseure, die Manipulatoren sind und beides vermischen.

Show-Hypnotiseure zählen in der Regel dazu. Sie erkennen zielsicher Personen im Publikum, die besonders suggestibel, also leicht zu hypnotisieren sind. Show-Hypnotiseure bauen dazu sogenannte Convincer ein, Hypnose-Appetithäppchen:  Wer schluckt sie ohne lange zu zögern? Bei wem schließen sich bereits nach  ein paar suggestiven Worten die Augen und heben sich die Arme? Im Gegensatz zu Entertainern, haben sich Hypnosetherapeuten verpflichtet, Hypnose ausschließlich zum Wohl und im Interesse der Klienten oder Patienten einzusetzen.

Adressen findet man bei Berufsverbänden wie dem Deutschen Verband für Hypnose e.V., bei dem Sabine Kaltwasser Mitglied ist. Weitere Verbände sind unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Hypnose und Hypnosetherapie e.V. und die Milton H. Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose. Benannt ist sie nach dem 1980 verstorbenen amerikanischen Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten. Er hat die moderne Hypnose und Hypnotherapie geprägt und ihren Einsatz in der Psychotherapie gefördert. Mit seinen Studien und Therapieansätzen hat er den Bann aufgehoben, den Sigmund Freud, ein strikter Gegner der Hypnose, zu Beginn des 20sten Jahrhunderts über sie verhängt hatte.

Die Geschichte der Hypnose als Heilmittel reicht mehr als 4000 Jahre zurück: Keilschriften der Sumerer beschreiben, wie Heiler Trancezustände herbeiführen und einsetzen. Als Urvater der modernen medizinischen Hypnose gilt der 1860 verstorbene schottische Chirurg James Baird: Er beobachtete bei einem Hausbesuch, wie einer seiner Schmerzpatienten die Flamme der Kerze neben dem Bett anstarrte und offenbar keine Beschwerden spürte.

James Baird experimentierte mit dem Phänomen und setze es als Narkose und Therapie ein. Er nannte es  Neurypnologie. Daraus entwickelte sich das Kürzel Hypnologie und später Hypnotismus, die Wissenschaft der Hypnose. Hypnos, der griechische Gott des Schlafs, der sich in den Begriffen verbirgt, führt jedoch auf eine falsche Fährte: Baird selbst und nach ihm Neurologen und Hirnforscher haben Trance und Schlaf als unterschiedliche Bewusstseinszustände identifiziert.

Gut ein Jahrhundert vor Baird spielte der Deutsche Mediziner Franz Anton Mesmer mit der Trance als Heilmittel. Er inszenierte sie als Bühnenshow. Wie ein Zauberer schwang er einen Metallstab über seine Patienten. Sie saßen um ein Fass mit magnetisiertem Wasser und pressten Metallstäbe gegen ihren Körper. Das Licht war gedämpft, die Luft schwer von Weihrauch und erfüllt von Sphärenklängen einer Glasharmonika. Ein Zucken der Hand Mesmers löste Schreie, Lachanfälle und Zuckungen aus, die er „heilsame, reinigende Krisen“ nannte. Bis heute findet die mystische Stiefschwester der medizinischen Hypnose vereinzelt Anhänger.

Sabine Kaltwasser sagt: „Bei der Wahl eines Behandlers rate ich unbedingt zum Weg über die großen Verbände. Deren Mitglieder sind Hypnotherapeuten mit einer Heilerlaubnis“. Hypnotiseur kann sich dagegen jeder nennen, die Berufsbezeichnung ist nicht geschützt. Jeder hypnotisierbare Mensch kann Techniken für eine Selbsthypnose lernen, um Ängste zu reduzieren, Schmerz und Stress besser zu bewältigen oder Verhalten zu ändern. „Bei Bedarf erhalten meine Patienten und Klienten eine Anleitung“, sagt Sabine Kaltwasser. 

Neben Fremd- und Selbsthypnose, kann auch Fernhypnose Wirkung zeigen. Seit dem Lockdown werden vermehrt Online-Behandlungen angeboten. Auch bei Sabine Kaltwasser kann man sie buchen. Ob virtuell oder vor Ort: Menschen mit ausgeprägt niedrigem Blutdruck behandelt sie nicht, weil Kreislaufprobleme auftreten können. Auch für Patienten in einer psychotischen Phase ist die Therapie ungeeignet: Sie kann die bestehende Psychose verstärken. 

Die Vermutung, dass Sabine Kaltwasser sich selbst behandeln kann und darum ein Leben ohne Krisen, Ängste, Beschwerden und ungesunde oder lästige Angewohnheiten führt, kann sie nicht bestätigen: „Ich bin nur sehr schwer hypnotisierbar. Mich in tiefe Trance zu versetzen, schaffen nur wenige Kollgegen. Mir selbst ist es bisher noch nie gelungen, leider. Mein Rat an alle, denen es genauso geht, lautet,  geben Sie sich Zeit, probieren Sie es weiter.“

 

Adressen und weitere Informationen

Was kann Hypnose? Wie wirkt Hypnose? Woran erkenne ich seriöse Hypnose? Wie finde ich qualifizierte Therapeuten? Diese und weitere Fragen beantworten die drei wissenschaftlich fundierten deutschsprachigen Hypnosegesellschaften auf ihrer gemeinsamen Plattform hypnose.de 

Milton Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose (MEG) e.V. 
Deutsche Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie (DGH) e.V. 
Deutsche Gesellschaft für Zahnärztliche Hypnose (DGZH) e.V.
Auf ihren Seiten bieten sie Weiterbildungen für Fachleute, Informationen, auch für Laien, und Adressen von Ärzten, Zahnärzten, Kliniken und Therapeuten, die Hypnose anwenden.

Addressen und Informationen finden sich auch beim Deutschen Verband für Hypnose (DVH) e.V.. Er hat rund 800 Mitglieder, qualifiziert ausgebildete Therapeuten, die sich unter anderem verpflichten, nach einem fundierten Ethik-Kodex zu arbeiten.

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir im gesamten Text die männliche Form, meinen jedoch alle Geschlechter.

Heilsame Stammesgemeinschaft

Bäume umarmen, Blätter schmecken, den Boden küssen zählen zu den Übungen beim Waldbaden, auf japanisch: Shinrin Yoku. In Japan ist die Therapie gegen Stress und viele andere seelische und körperliche Beschwerden seit den 1980er Jahren etabliert. Ein Eintauchen in den Wald mit Sigrid Schwarz am Jagdschloss Platte – mit erstaunlichen Erlebnissen und Erkenntnissen.


Naturlover© privat

Sigrid Schwarz ist diplomierte Landschaftsplanerin, Land Art Künstlerin, ganzheitliche Waldtherapeutin und Gründerin von Naturlover. Bei ihren Coachings, Therapien und Erlebniskursen für Firmenbelegschaften und private Teilnehmer*innen spielen die Heilkräfte der Natur Hauptrollen. Kontakt, Termine und mehr Informationen.

„In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in der Verbindung mit dem Ganzen steht.

Johann Wolfgang von Goethe

Der Waldpfad und ich sind offenbar kein Liebespaar. „Gehen Sie so, als würden Sie den Boden mit den Füßen küssen“, sagt Sigrid Schwarz. Sie macht es vor: Mit langsamen, langen Schritten tänzelt sie über Kiesel, Nadeln und trockene Zweige. Ich folge, indem ich in Zeitlupe vom Ballen zur Ferse abrolle. Doch was ich für Küsse halte, fühlt sich wie Schubser an. Der Weg knirscht und wehrt sich mit Stolpersteinen, die mich ins Wanken bringen.

„Und, wie fühlt es sich an?“, höre ich Sigrid Schwarz fragen und tauche auf: Ohne es bemerkt zu haben, bin ich beim Versuch zu küssen versunken, tief in Gedanken an Wege, die ich im Lauf des Lebens beschritten habe. Bilder aus der Kindheit sind mit an die Oberfläche getrieben: Meine Freunde und ich kriechen durchs Unterholz zu unserer geheimen Hütte. Wir haben Zweige und dürre Stämme zu Wänden und einem Dach verflochten und auf dem Boden einen Teppich aus Blättern und Moos verlegt. Vor dem Eingang wächst ein Festmahl: ein Haselnussstrauch. Ich schmecke die Süße der Früchte.

Nach kaum einer Viertelstunde Waldbaden auf der Wiesbadener Platte ist mein Erwachsenenalltag in die Ferne gerückt. Ich fühle mich leicht und entspannt. Die Methode wurde in Japan Anfang der 1980er Jahre entwickelt. Dort gibt es Shinrin Yoku, so die Übersetzung, inzwischen auf Rezept. Forscher in aller Welt bestätigen die Wirkung gegen Stress, Ängste, Bluthochdruck, Diabetes mellitus und zahlreiche weitere seelische und körperliche Beschwerden. Waldbaden findet weltweit immer mehr Befürworterinnen und Anhängerinnen, auch hierzulande.

In Wiesbaden bietet Sigrid Schwarz Waldbaden an, Gründerin von Naturlover in Wiesbaden: „In meinen Coaching-Seminaren und Kursen begleite ich Menschen, damit sie in der Natur wieder zu ihrer eigenen Natur finden. Die Verbundenheit, die wir dort erleben, wirkt positiv auf Körper, Seele und Geist.“

„Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit und die ist grün.”
Hildegard von Bingen

Waldbaden funktioniert denkbar einfach und schädliche Nebenwirkungen sind ausgeschlossen – Stolpern und Insektenbisse ausgenommen: „Es geht darum, den Naturraum Wald mit allen Sinnen achtsam wahrzunehmen“, erklärt Sigrid Schwarz. „Dabei gibt es keine strikten Regeln. Man kann meinen Anregungen und der eigenen Intuition folgen.“

Waldbaden ist Tasten: Blätter, Rinden, Waldfrüchte, Holzstücke zu berühren und sich berühren zu lassen. Es ist bewusstes Schauen: den Blick nach unten, nach oben, nach innen zu richten, ihn auf Details ruhen zu lassen, Muster zu entdecken, sei es im Lichtspiel der Blätter – oder im eigenen Verhalten.

Waldbaden ist auch, innezuhalten und die Augen zu schließen, um zu lauschen, zu riechen, den Wind auf der Haut zu spüren. „Wir sind im Alltag sehr auf unsere visuelle Wahrnehmung fixiert. Es ist überraschend, was wir erfahren, wenn wir sie einmal bewusst zurücknehmen“, sagt Sigrid Schwarz.

„Entschleunigung ist das Zauberwort, Achtsamkeit die Devise, Einfachheit der Weg“. Das ist die Kurzformel, mit der Sigrid Schwarz Waldbaden beschreibt. Etwa vier Stunden dauert ein Kurs. Geeignet ist er für alle, die trittsicher Gehen und sich auf Langsamkeit einlassen können. Lange Strecken werden nicht zurückgelegt, oft nur ein, zwei Kilometer.

Trotzdem können sich fremde Welten eröffnen. Die Waldtherapeutin zeigt mir, wie ich sie finden kann: „Stellen Sie eine Frage. Dann schreiten Sie über eine imaginäre Schwelle und vergessen die Frage. Gehen Sie achtsam weiter. Was fällt ins Auge, welches Geräusch, welches Aroma erregen die Aufmerksamkeit? Halten Sie die Sinne achtsam offen, und der Wald wird antworten.“

„Was darf ich in meinem Leben loslassen?“, sei eine gut geeignete Frage, ebenso: „Was darf ich in mein Leben einladen?“ Ich entscheide mich für erstere und folge dem Pfad. Ein Vogel zwitschert. In der Ferne brummt ein Automotor. Äste knacken unter den Sohlen. Doch der Wald schweigt.

Der Impuls, links ins Gelände abzubiegen, führt mich zu einer Gruppe von Laubbäumen. Vier ruppige, ausgemergelte Riesen stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Sie klingen unfreundlich, geradezu feindselig. Einige Schritte abseits ragt ein Nadelbaum auf. Er neigt sich weg von der Gruppe. Es ist offensichtlich: Er ist verstoßen und wird gemobbt.

Dem Außenseiter gehört mein Mitgefühl. Ich gehe auf ihn zu, um ihn zu streicheln. Und schrecke zurück: Die Rinde besteht aus esslöffelgroßen Schuppen. Aus einer klaffenden Wunde tropft gelbe Flüssigkeit. Vor mir steht ein himmelhohes verletztes Reptil, das mit großer Wahrscheinlichkeit giftig ist. Der Wald hat geantwortet: Hinter mir lassen kann ich Kontakte, die mich beunruhigen und mir schaden können. Ich weiß sofort, wer gemeint ist.

Wie eine Meditation, Tarotkarten oder I-Ging-Stäbchen, erlebe ich den Wald als Orakel. Er bündelt die Konzentration und schickt Gedanken in eine Richtung: Sie sind ein Laserskalpell, mit dem ich ein Problem sezieren und ihm auf den Grund gehen kann. Das bringt mir vielleicht keine Lösung, aber mehr Klarheit.

Sigrid Schwarz hat eine andere Erklärung für die Arntworten des Waldes: „Er lädt uns dazu ein, unsere Welt der festen Vorstellungen und Begriffe zu verlassen und der Wirklichkeit so näher zu kommen. Buddhisten nennen das nicht konzeptuelles Gewahrsein. Anstatt die Welt mit einem Filter von Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffen wahrzunehmen, verbinden wir uns mit dem ungefilterten Puls des Lebens in diesem Augenblick“, und fügt hinzu: „Man muss sich darauf einlassen. Wer generell ablehnend ist, wird keine Antworten finden.“  

Unbestritten sind die positiven Effekte des Waldes auf Körper und Seele. Zahlreiche Studien belegen, dass ein Aufenthalt in der Natur das Herz langsamer schlagen lässt. Der Cortisol-Spiegel, Stressniveau und Blutdruck sinken. Muskeln entspannen und das Immunsystem wird gestärkt. Mikroorganismen und chemische Stoffe sind im Wald aktiv, darunter Phytonzide, die Pflanzen produzieren, um Krankheiten und Schädlinge abzuwehren. Einige von ihnen nehmen wir als Düfte wahr und verwenden sie für Aroma- und Heilöle. Zur gesunde Luft tragen außerdem Anionen bei, negativ geladene Teilchen, deren Anteil im Wald erhöht ist. 

Auch das Sozialverhalten verbessert sich im Grünen. Umweltpsychologen haben beobachtet, dass Kinder im Wald kooperativer, autonomer und eher altersübergreifend spielen. Und sogar die unheimliche Seite tut uns gut: Zwielicht, ungewohnte Tiergeräusche, Insekten bringen uns in Kontakt mit Ängsten und helfen dabei zu lernen, wie wir sie bewältigt werden können, so eine Erklärung der Forscher.

„Von den Bäumen können wir sehr viel lernen“, sagt Sigrid Schwarz. Bäume sind über ein Pilzsystem unterirdisch miteinander verbunden und versorgen ihre Nachkommen und schwächere Exemplare mit Zuckerlösung. Ist ein Fressfeind im Anmarsch werden die Anderen über mehrere Kilometer hinweg mit Hilfe von Terpenen, flüchtigen organischen Substanzen, gewarnt: „Bäume sind fürsorgliche, soziale Wesen. Tatsächlich möchten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer sie umarmen“, sagt Sigrid Schwarz und nennt eine weitere Möglichkeit, sich mit Bäumen zu verbinden: „Man kann die Hände um Äste legen, ohne sie zu berühren. Dabei kann man ihre Aura wahrnehmen, als leichten Druck oder Temperaturunterschied.“

Man braucht keinen Wald für die positiven Effekte: Studien belegen, dass Patienten, vor deren Fenster es grünt, mit weniger Schmerzmittel auskommen und schneller genesen. „Mit einigen Klientinnen und Klienten bleibe ich im Kurpark“, sagt Sigrid Schwarz. „Er ist mehr als groß genug, um die Sinne achtsam zu schärfen und sich mit der Erde und der Natur zu verbinden.“

Den Rückweg zum Parkplatz widmet Sigrid Schwarz dem Geschmacksinn. Sie zupft ein Buchenblatt ab: „Probieren Sie mal! Waldpflanzen sind reich an Bitterstoffen. Sie sind gut für die Verdauung.“ Haselnussblätter seien derzeit ihr Favorit oder die trockenen Samen von Brennnesseln mit ihrem nussigen Aroma. „Natürlich soll man nur kosten, was man kennt. Auch in unseren Breiten wachsen hochgiftige Pflanzen wie Eibe, Fingerhut oder einige Pilzsorten.“

Auf den letzten Metern verteile ich Abschiedsküsse mit den Füßen: Der Waldpfad und ich sind auf dem besten Weg, Freunde zu werden.


Waldbaden: Adressen und weitere Informationen

Naturlover Wiesbaden
Die Wiesbadener Waldtherapeutin Sigrid Schwarz bietet zahlreiche Erfahrungen in der Natur an, auch Coachings für Firmenmitarbeiterinnen und Einzelpersonen. Waldbaden in der Gruppe dauert ca. drei Stunden, ab 15 Euro/ Pers. 

Waldbaden in Hessen
Kornelia Stöhr ist Entspannungspädagogin und zertifizierte Kursleiterin für Waldbaden – Achtsamkeit im Wald mit Zusatzqualifikation Waldbaden für Kinder und Jugendliche. Sie leitet Kurse im Waldbaden u.a. in der Region Vogelsberg.

HA Hessen Agentur GmbH
Die Touristikabteilung der Agentur bietet einen Überblick über Veranstalter und Termine sowie Informationen zum Waldbaden in Hessen.

Wohllebens Waldakademie
Mit dem Autor und Förster Peter Wohlleben und seinem Team kann man u. a.  in der Eifel Waldbaden. 

Lesetipps

Die wertvolle Medizin des Waldes: Wie die Natur Körper und Geist stärkt
Über 30 Jahre lang hat der Mediziner und Professor an der Universität Tokio die heilsame Kraft des Waldes erforscht und Shinrin Yoku (deutsch: Waldbaden) entwickelt. Mit praktischen Übungen zeigt er, wie wir die fünf Sinne anregen, Körper und Geist in Einklang bringen, die Beziehung zur Natur erneuern und uns die Hilfskraft der Natur zunutze machen können. Prof. Dr. Qing Li, Rowohlt,16,99 Euro

Das geheime Leben der Bäume
Der Bestsellerautor und Förster beschreibt, wie Bäume, Stauden, Gräser, Pilze im Wald mit chemischen Stoffen kommunizieren, einander warnen, helfen und heilen – und wie diese Stoffe auch positiv auf Menschen wirken. Grundlagen sind eigene Erfahrungen und zahlreiche internationale Studien. Ein faszinierendes Bild des Waldes als Gesellschaft denkender und fühlender Wesen. Peter Wohlleben, Heyne TB, 12 Euro

Waldbaden – Das Praxisbuch
Neben Übungen zu Achtsamkeit und Entschleunigung, stehen die Wirkung von Aromen und Rezepte für Duftöle und Menüs mit Wildkräutern und -beeren im Mittelpunkt. Esther Winter, Christian Verlag, 19,99 Euro