Amtswege zum schöneren Lebensabend

Vom geselligen Tagesausflug bis zum Vermitteln von Altenwohnungen und Pflegeplätzen reicht das Angebot der Stadt Wiesbaden zur Versorgung und sozialen Teilhabe von Seniorinnen und Senioren. Iris Groß beschreibt die Vielfalt, Herausforderungen und Lösungen, darunter ein Leuchtturmprojekt, – und Hundertjährige, die Hoffnung schenken.

Iris Groß ist Sozialarbeiterin und leitet seit 2020 die Abteilung Altenarbeit des Amts für Soziale Arbeit der Landeshauptstadt. Mehr Informationen.

© Landeshauptstadt Wiesbaden

„Viele der Senioren brauchen uns nicht, zum Glück!“

mymedAQ: Können Sie in Ihrem Berufsalltag als Leiterin der Abteilung Altenarbeit Eigenschaften entdecken, die typisch sind für die Generation ü-65, mit der Sie es hauptsächlich zu tun haben?
Iris Groß: Ja, so eine Eigenschaft gibt es tatsächlich. Viele dieser Menschen haben Existenzen gegründet und ihre Familie nach Kräften unterstützt. Sie sind es gewohnt, produktiv zu sein und zu geben. Vielen fällt es darum eher schwer, Hilfen anzunehmen. Sie haben das Gefühl, eine Last zu sein, wenn sie in Wahrheit einen Dienst in Anspruch nehmen, der Ihnen zusteht.

mymedAQ: Deutschlandweit wird die Gesellschaft älter. In Wiesbaden leben rund 60 000 Menschen, die älter als 65 Jahre sind, im Jahr 2035, so die Prognose, werden es 68 000 sein. Wie stimmen Sie die Angebote auf die demografische Entwicklung ab?
I.G.: Wir setzen auf starke Partnerschaften. Nur in Kooperation mit anderen kommunalen Angeboten wie der Beratungsstelle für barrierefreies Wohnen und dem Pflegestützpunkt, aber auch mit externen Partnern, freien Trägern und privaten Dienstleistern können wir den Seniorinnen und Senioren die Vielfalt an Leistungen zur Verfügung stellen.

mymedAQ: Zu den weiteren Angeboten der Abteilung Altenarbeit zählen die Beratungsstellen im Alter für Bürgerinnen und Bürger über 60 Jahre an vier Standorten Süd, West, Nord und Ost. Wie haben sich die Beratungsthemen im Lauf der Jahre verändert?
I.G.: Die Schwerpunkte sind die gleichen geblieben, Finanzen und Versorgung. Die meisten brauchen Hilfe, um den Lebensunterhalt zu sichern und passende professionelle Care-Anbieter zu finden. Die finanziellen Belastungen nehmen zu, viele Menschen, vor allem Frauen, erhalten niedrige Renten, von denen sie allein nicht leben können. Gleichzeitig wird es immer mehr zur Ausnahme, dass sich Familien um alte Angehörige kümmern können. Wenn alle Familienmitglieder arbeiten gehen, was immer mehr der Normalfall ist, bleibt keine Zeit und Kraft.

mymedAQ: Mit 66 Jahre, stellte bereits Udo Jürgens fest, fängt das Leben erst an. Das gilt sicher für immer mehr Menschen. Kann man sich auch mit Themen wie Wiedereinstieg in den Beruf oder Altersdiskriminierung im Job an Ihre Stelle wenden?
I.G.: Nein, diese Art von Beratung können wir als kommunale Einrichtung nicht leisten. Viele Senioren brauchen unsere Leistungen nicht, zum Glück! Sie sind gesund, aktiv und können sich selbst bestens versorgen und kulturelle und soziale Angebote wahrnehmen.

mymedAQ: Ihre vier „Treffpunkte aktiv“ in Wiesbaden Mitte, Biebrich, Kastel und Kostheim stehen Menschen ab 55 Jahren offen. Welche Aktivitäten bieten Sie dort an?
I.G.: Das ist breit gefächert und reicht von Stadtführungen über Sport- und Spielangebote bis zum Café und zum Tagesausflug.

mymedAQ: Viele ältere Menschen mögen es nicht, ausschließlich unter gleichaltrigen oder älteren zu sein. Gibt es auch generationsübergreifende Aktivitäten?
I.G.: Wir hatten einen Mittagstisch, der auch von Schülern genutzt wurde, aber mehr Angebote können wir leider nicht stemmen.

mymedAQ: Wenn eine gute Fee käme, die Ihnen drei Wünsche für die Abteilung Altenarbeit gewähren würde, welche wären das?
I.G.: Sicherlich mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Derzeit sind wir alles in allem 60, davon etwa 30 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Etwa bedeutet, einige haben keine Vollzeitstelle. Das zweite wäre mehr Geld für Projekte zur sozialen Teilhabe! Ich würde mir wünschen, dass wir Mittel hätten zu experimentieren, zum Beispiel mit Theater AGs, Kunstateliers, Seniorenorchestern, …

mymedAQ: ... einem Computer-Camp?
I.G.: Ja, vielleicht. Obwohl das Thema bei unserer Zielgruppe keine hohe Priorität hat, so unsere Erfahrungen. Umfragen zeigen, dass Menschen über 65 in Deutschland noch immer überwiegend klassische Medien Fernsehen, Rundfunk und Print nutzen. Die Menschen, die zu uns kommen, sind mehrheitlich nicht oder sehr selten am Rechner. Dass jemand eine E-Mail-Adresse hat, ist noch eher die Ausnahme. Aber Mittel einer gute Fee könnten wir durchaus auch für ein Projekt ausgeben, das eine Minderheit anspricht. Und ältere Menschen an das Thema heranzuführen, das wäre klasse!

mymedAQ: Und der dritte Wunsch?
I.G.: Ganz klar, mehr barrierefreie, altersgerechte Wohnungen. Weitere Schwerpunkte unserer Arbeit sind die „Beratungsstelle für barrierefreies Wohnen“ und das Sachgebiet „Service Wohnen“, also die Vermietung von Wohnungen in den Altenwohnanlagen für Menschen über 65. In diesen Bereichen gibt nach wie vor zu wenig Angebote. Wer in der eigenen Wohnung gut klarkommt, ist länger selbständig.

mymedAQ: Wie lang ist die Wartezeit in Wiesbaden?
I.G.: Das lässt sich pauschal nicht sagen. Wir haben aber beobachtet, dass während der Coronazeit noch weniger Wohnungswechsel stattgefunden haben. Wer auszieht, der entscheidet sich in der Regel für ein Heim, und das haben viele Menschen während des Lockdown vermieden. Unabhängig von der Coronazeit ist es aber so, dass die meisten Mieter möglichst bis zum Tod in den eigenen vier Wänden bleiben.

mymedAQ: Dazu tragen auch Quartiere bei. Gesundheits- und Pflegeanbieter, Dienstleister und Bewohner eines Viertels schließen sich zu einem Netzwerk zusammen, das die Versorgung erleichtert und soziale Teilhabe ermöglicht. Einige Wiesbadener Quartiere bieten zusätzlich ein virtuelles Miteinander auf der Plattform myvivie.de an. Was halten Sie davon?
I.G.: Die Stadt unterstützt viele nicht-kommunale Initiativen und Angebote, auch Quartiere. Sie kann Altenarbeit nicht im Alleingang bewältigen. Wir sind auf pflegende Angehörige angewiesen, auf Vereine und auf private Dienstleister und Infrastukturen. Vernetzung, egal in welcher Form, ist unbedingt notwendig und auf jeden Fall zu begrüßen.

mymedAQ: Beim Thema Demenz besteht die Zusammenarbeit zwischen kommunalen und nicht kommunalen Stellen bereits seit 2007.
I.G.: Ja, damals hat die Stadt entschieden, das Thema Demenz strukturiert anzugehen und die Geschäftsstelle des Forum Demenz gegründet. Derzeit arbeiten rund 40 Partnerinnen und Partner zusammen, darunter Pflegeanbieter und Vereine, um Betroffenen und Angehörigen gezielt und möglichst unkompliziert zu helfen. Das Netzwerk GeReNet.Wi, ein Netzwerk an der Schnittstelle zum Gesundheitswesen, gibt es in Wiesbaden schon seit mehr als 20 Jahren. Inzwischen haben viele Städte vergleichbare Einrichtungen, aber damals war Wiesbaden ein Leuchtturmprojekt in Deutschland.

mymedAQ: Sie sind seit rund 20 Jahren in der Altenarbeit aktiv. Haben Sie Angst vor dem Alter?
I.G.: Nein. Man darf nicht vergessen, dass eine Mehrheit der rund 18,3 Millionen Seniorinnen und Senioren in Deutschland relativ gesund, selbständig und selbstbestimmt alt werden kann. Da müssen wir noch sehr am Altersbild in der Gesellschaft arbeiten! Denken Sie an Roland Kaiser und Udo Lindenberg, die mit über 70 Jahren Konzertsäle voller junger Leute füllen! Ich habe die Hoffnung, zur Mehrheit zu zählen.

mymedAQ: Gibt es ein Erlebnis in ihrem Berufsalltag, das Ihre positive Haltung bestärkt hat?
I.G.: Ja. Ganz am Anfang meiner Laufbahn, während eines Praktikums, habe ich ein Ehepaar betreut. Beide waren über 100 Jahre alt und glücklich. Eines Tages verkündeten Sie mir, dass sie sich in aller Freundschaft trennen wollten, weil eine Ehe nicht auf 80 Jahre ausgelegt sei. Ich konnte Ihnen zwei kleinere Wohnungen besorgen, die nah bei einander lagen. Sie zogen um und blieben Freunde, die sich mehrmals pro Woche besuchten. Mir ist damals klar geworden, dass Veränderungen zum Besseren bis ins hohe Alter möglich sind.

mymedAQ: Sehr geehrte Frau Groß, vielen Dank für das Gespräch!

Adressen & Informationen

Altenarbeit in Wiesbaden
Adressen, Öffnungszeiten und weitere Informationen zu kommunalen und nicht öffentlichen Anbietern in un um wiesbaden finden Sie auf mymedAQ unter der Rubrik Pflege Meine Stadt, mein Lebensabend

Quartiere in Wiesbaden
Bewohnerinnen und Bewohner, Gesundheits- und Pflegeanbieter, Arztpraxen, Apotheken und Dienstleister bilden ein Netz, um die Versorgung und soziale Teilhabe von Seniorinnen und Senioren zu verbessern. Träger sind Vereine und andere Initiativen und Einrichtungen, darunter Wohnungsbaugenossenschaften. In Wiesbaden gibt es derzeit sieben Quartiere: Biebrich, Gräselberg, Sauerland, Schelmengraben, Wiesbadener Osten, Eigenheim Komponistenviertel und Klarenthal. Die drei letzt genannten bieten inzwischen (Klarenthal in Kürze) auch virtuelle Zugänge zu den Angeboten und zum Austausch auf der Quartiersplattform myvivie.de

Zahlen und Fakten rund ums Alter
Von den 60 000 Wiesbadenerinnen und Wiesbadenern über 65 Jahre sind 9500 pflegebedürftig (Stand 2019).

1 332 000 der  6,3 Millionen Menschen in Hessen sind 65 Jahre und älter. Nach den 1 773 000 Menschen zwischen 40 und 59 bilden sie die zweitgrößte Gruppe (Stand 2021).

Das Durchschnittsalter in Hessen beträgt 44 Jahre, in Deutschland 44,6 Jahre (Stand: 2020).​​​​​

Die beliebtesten Freizeitaktivitäten der Menschen über 65 in Deutschland sind Fernsehen, Radio hören, Spaziergänge und Kochen. Spazieren gehen ist die beliebteste Sportart, gefolgt von Schwimmen und Wandern.

Menschen über 70 Jahre engagieren sich hierzulande anteilig häufiger in Ehrenämtern als jüngere Menschen.

Weitere Informationen zum demografischen Wandel in Deutschland bietet z.B. die Bundeszentrale für politische Bildung bpb.
Quellen: Landeshauptstadt Wiesbaden, Statistisches Bundesamt, Statista; alle Zahlen sind cirka-Angaben.